Wer ein Grundstück in Nordrhein-Westfalen bebaut, bekommt häufig den Rat: „Es wird eine Luftbildauswertung durchgeführt.“ Doch was genau passiert bei dieser Untersuchung? Wie erkennen Fachleute aus alten Kriegsfotos, wo Kampfmittel vergraben sind? Dieser Beitrag erklärt die technische Methode verständlich – für alle, die verstehen wollen, was hinter dieser wichtigen Sicherheitsmaßnahme steckt.
Was ist Luftbildauswertung?
Die Luftbildauswertung ist ein Verfahren zur Erkennung von Bombardierungsfolgen aus dem Zweiten Weltkrieg. Fachleute analysieren dabei alliierte Luftbilder aus den Jahren 1939 bis 1945 – fotografiert von britischen und amerikanischen Flugzeugen während ihrer Luftangriffe. Ziel ist es, Kampfmittelbelastungen auf Grundstücken zu identifizieren, bevor Bauarbeiten beginnen.
In Nordrhein-Westfalen ist die Luftbildauswertung immer kostenlos. Sie wird vom Kampfmittelbeseitigungsdienst (KBD) durchgeführt – eine fachkundige Behörde bei den Bezirksregierungen. Grundstückseigentümer müssen sich an ihre zuständige Ordnungsbehörde (Stadt oder Kreis) wenden; diese leitet die Anfrage weiter.
Die Bombentrichter: Das Erkennungszeichen
Das Wichtigste zuerst: Fachleute suchen zum Beispiel nach Bombentrichtern – also Kratern, die durch explodierende Bomben entstanden sind oder nach Einschlagstellen von Bombenblindgängern. Diese sind das zuverlässigste Zeichen für Bombardierungen auf historischen Luftbildern.
Bombentrichter sind charakteristische Kraterformen, die in alten Kriegsluftbildern deutlich sichtbar werden. Je nach Bombentyp und Bodenbeschaffenheit haben sie typischerweise einen Durchmesser von 5 bis 13 Metern. Sie erscheinen auf dem Luftbild als dunkle, kraterartige Vertiefungen.
Um diese Trichter herum befindet sich häufig ein charakteristisches Merkmal: ein strahlenförmiger Kranz, der wie ein Stern aussieht. Dieses Material wurde bei der Detonation ausgeworfen. In der Mitte der Trichter finden sich manchmal kleine Erhebungen – Materialansammlungen, die an „Sandburgen“ erinnern. Die Ränder der Trichter sind meist durch scharfe Konturen gekennzeichnet und können wallartig aufgewölbt sein.
Die Stereoskopische Auswertung: Der 3D-Blick
Dies ist die Kernmethode der Luftbildauswertung. Statt einzelne, flache Bilder zu betrachten, nutzen Fachleute zwei sich überlappende Aufnahmen desselben Ortes aus leicht unterschiedlichen Winkeln – ein sogenanntes Bildpaar.
Der Trick: Mit zwei leicht versetzten Aufnahmen entsteht beim geschulten Auge (oder mit speziellen Geräten) ein dreidimensionaler Bildeindruck – ähnlich wie beim stereoskopischen Sehen mit einer Rot-Cyan-Brille. In dieser 3D-Ansicht werden Bombentrichter deutlich erkennbar, weil die Tiefenwirkung Vertiefungen und Erhebungen offenbart.
Dies ist entscheidend, denn es verhindert Fehlinterpretationen: Was auf einem flachen Bild mehrdeutig aussehen könnte, wird im 3D-Modell eindeutig. Schatten, Bodenverlauf und Strukturen werden räumlich richtig eingeordnet. Kampfmittelrelevante Strukturen wie Gebäudeschäden, Bombentrichter oder Laufgräben lassen sich auf diese Weise von harmlosen Objekten deutlich abgrenzen.
Georeferenzierung: Präzise Ortsbestimmung
Nach der Luftbildinterpretation kommt ein technischer Schritt: die Georeferenzierung. Dabei werden die alten Kriegsfotografien präzise in das moderne Koordinatensystem eingepasst.
Das Ziel ist klar: Die Positionen der Bombentrichter müssen exakt mit der heutigen Landkarte übereinstimmen, damit Behörden und Bauherren wissen, wo genau sich verdächtige Stellen befinden. Moderne Vermessungstechnologie und GIS-Systeme (Geografische Informationssysteme) ermöglichen dies mit hoher Genauigkeit.
Digitale Orthofoto-Karten – entzerrte, geometrisch präzise Luftbilder von heute – dienen als Referenz. Fachleute vergleichen alte und neue Bilder, um verdächtige Positionen räumlich exakt festzulegen.
Multitemporale Auswertung: Der zeitliche Vergleich
Ein Rätsel bei der Luftbildauswertung: Bombardierungen hinterlassen Spuren, aber diese werden mit der Zeit weniger sichtbar. Regen füllt Trichter teilweise auf, Vegetation wächst zu, Menschen ebnen Flächen ein.
Um dies zu kompensieren, nutzen Fachleute die multitemporale Auswertung – also den Vergleich mehrerer Luftbildserien mit unterschiedlichen Aufnahmezeitpunkten. Wenn zum Beispiel ein Gebiet im März 1944 fotografiert wurde (vor einem Bombenangriff) und dann im April 1944 (nach dem Angriff), werden neue Bombentrichter im späteren Bild deutlich sichtbar.
Durch diese zeitliche Abfolge lassen sich selbst schwache oder zugewachsene Spuren erkennen. Dies ist eine zentrale Strategie, um Erkenntnislücken zu minimieren.
Die Rolle der Detailbilder und Übersichtsbilder
Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg gibt es in verschiedenen Maßstäben:
- Detailbilder zeigen kleine Bereiche mit hoher Auflösung und großem Maßstab (z.B. 1:5.000 bis 1:10.000). Sie ermöglichen Präzision und Detailerkennung.
- Übersichtsbilder zeigen größere Flächen mit kleinerem Maßstab (z.B. 1:20.000 bis 1:50.000). Sie helfen beim Überblick und bei der Priorisierung.
Beide Typen werden bei einer vollständigen Luftbildauswertung genutzt. Übersichtsbilder helfen zunächst, verdächtige Bereiche zu lokalisieren; Detailbilder ermöglichen dann die präzise Erfassung von Trichtern und anderen Befunden.
Qualitätsmerkmale der Luftbildgrundlage
Nicht alle Kriegsluftbilder sind gleich gut. Fachleute bewerten das verfügbare Material nach strengen Kriterien:
- Bildqualität: Bewölkung, Unschärfe oder Bildfehler beeinträchtigen die Interpretation. Ein wolkenfreies Bild ist ideal.
- Zeitlicher Bezug: Bilder kurz nach einem Bombenangriff zeigen frische, deutliche Trichter.
- Maßstab: Detailbilder sind aussagekräftiger als Übersichtsbilder, erfordern aber umfangreichere Recherchen.
- Verfügbarkeit: Für manche Regionen gibt es nur wenige Luftbildserien. Dann ist eine sorgfältige Auswahl wichtig.
Fehlt gutes Bildmaterial, können Fachleute eine niedrigere Bewertung der Luftbildgrundlage vergeben. Dies bedeutet nicht automatisch, dass keine Kampfmittel vorhanden sind – nur, dass die Luftbildanalyse weniger aussagekräftig ist.
Digitale Auswertung: Von analog zu digital
Früher wurde diese Arbeit mit Lupe und speziellen Stereoskopen durchgeführt – eine mühsame Handarbeit. Heute erfolgt die Auswertung digital mithilfe von GIS-Systemen und spezialisierter Software.
Digitalisierte Luftbilder werden mit modernen Karten überlagert (sogenannte Layer-Struktur in GIS-Programmen). Fachleute können so Befunde präzise markieren, messen und dokumentieren. Diese Digitalisierung ermöglicht auch automatisierte Voranalysen: Spezielle Algorithmen können Bombentrichter vordetektieren und damit die Fachleute unterstützen.
Die Grenzen der Methode: Was Luftbildauswertung NICHT leistet
Luftbildauswertung ist wertvoll – aber nicht unbegrenzt aussagekräftig. Folgende Grenzen sollten Sie kennen:
1. Bombentrichter sind nicht überall sichtbar
Nicht jede abgeworfene Bombe erzeugt einen erkennbaren Trichter. Bomben, die in Gewässern oder Mooren explodierten, können andere Spuren hinterlassen. Fehlzünder (Blindgänger) sind überhaupt nicht sichtbar.
2. Urbane Zerstörung erschwert die Interpretation
In stark bombardierten Stadtgebieten verschmilzen die Trichter mit Gebäudeschutt und Zerstörungen. Die Unterscheidung zwischen Bombentrichtern und anderem Zerstörungsmaterial wird schwierig.
3. Nachträgliche Bebauung überlagert Spuren
Ein Gebiet könnte bombardiert worden sein, aber danach wurden die Trichter eingeebnet, überbaut oder mit Auffüllmaterial gefüllt. Auf späteren Luftbildern ist dann nichts mehr zu sehen.
4. Zeitliche Verzögerung bei Aufnahmen
Wenn zwischen Bombenangriff und Fotografierung längere Zeit verging, können Trichter bereits teilweise zugewachsen oder gefüllt worden sein.
5. Ambivalente Befunde
Manche Strukturen auf alten Luftbildern könnten Bombentrichter sein – müssen es aber nicht. Hier ist Erfahrung und Kontextwissen der Fachleute gefragt.
Was kommt nach der Luftbildauswertung?
Wenn die Luftbildauswertung konkrete Hinweise auf Kampfmittelbelastung ergeben hat, folgen weitere Maßnahmen:
- Ortserkundung: Fachleute besuchen das Gelände und suchen visuell nach verdächtigen Strukturen.
- Magnetometrie-Messungen: Metalldetektoren oder magnetische Sensoren werden eingesetzt, um unterirdische Metallgegenstände zu lokalisieren.
- Bodenradar: Hochfrequenzwellen durchleuchten den Untergrund und zeigen verdächtige Objekte.
- Ggf. Kampfmittelräumung: Wenn Kampfmittel gefunden werden, entfernt der KBD diese in enger Abstimmung mit der Ordnungsbehörde.